Ein Plädoyer für die Stärkung von prozessualer Qualität, Teil 1
von Prof. Dr. Dr. Dr. Wassilios Fthenakis


Gunilla Dahlberg (1999, 2004) weist darauf hin, dass der aktuelle gesellschaftliche Wandel – ökonomisch, sozial, technologisch – mehr als nur den Übergang von einer Industriegesellschaft zu einer Informations- und Wissensgesellschaft verkörpert. Vielmehr findet nach Dahlberg eine grundlegende Neubewertung der Art und Weise statt, wie wir die Welt und uns selbst sehen und verstehen. Seit der Aufklärung wurde unser Weltbild stark durch das Projekt der sogenannten Moderne geformt.

Die Kernprämissen dieses Projekts sind kontinuierlicher und linearer Fortschritt, Gewissheit und Universalität, die Entdeckung »nachweisbarer« Wahrheiten durch die Anwendung »objektiver« wissenschaftlicher Methoden. Diese werden allerdings zunehmend in Frage gestellt. Heute gewinnt das Projekt der sog. Postmoderne an Bedeutung. Dieses Konzept geht von ganz anderen Prämissen aus: Ungewissheit, Komplexität, Vielfalt, Multiperspektivität sowie historische und Kontextbezogenheit werden nicht nur akzeptiert, sondern sogar unterstützt. Dieser Paradigmenwechsel eröffnet neue Sichtweisen darauf, wie pädagogische Theorie und Praxis zu verstehen und zu konzeptualisieren sind.

Heutige Erziehungs- und Bildungsprogramme zeigen immer noch eine Tendenz zur Moderne. Eine Bildungskonzeption, die sich der Postmoderne verpflichtet fühlt, spiegelt dagegen ein Weltbild wider, das durch kulturelle Diversität und soziale Komplexität gekennzeichnet ist. Merkmale also, welche die geringe Prognostizierbarkeit berücksichtigen, die typisch für die postmodernen Gesellschaften ist. Hier muss sich der Einzelne mit Diskontinuität, Verlust und schnellen Veränderungen auseinandersetzen. In einer so gestalteten Welt kann Orientierung nicht mehr mit Hilfe von Normen und durch von außen definierte Standards erreicht werden, sondern diese muss durch das Individuum selbst gewährleistet werden.

Jedes Bildungskonzept, das dieser Philosophie folgt, schätzt bestehende Unterschiede als positiv ein und sieht in ihnen eine Quelle für reichhaltigere Lernerfahrungen. Diese werden innerhalb des Bildungsprozesses genutzt statt ignoriert oder gar eliminiert. Nachdem die meisten pädagogischen Konzepte der vergangenen Jahrzehnte der Unterschiedlichkeit von Kindern in einer Gruppe nicht die angemessene Beachtung (King et al. 1994) schenkten, werden in jüngerer Zeit dem Geschlecht (MacNaughton, 2004), der sozialen Klasse und der ethnischen Zugehörigkeit vermehrt Bedeutung zugemessen (McCracken, 1993; Ramirez/Ramirez, 1994; Zarillo, 1994). Dies gilt nach den PISA-Befunden für Deutschland in besonderer Weise. Im Gegensatz zu modernistisch nationalstaatlich geprägten Konzepten stellen postmoderne Bildungspläne die Dominanz der Muttersprache oder der ethnischen Identität in Frage und befürworten sogar den Erwerb von Fremdsprachen- und interkultureller Kompetenz. Diesem Verständnis folgend werden kulturelle Unterschiede in einem Land nicht negiert, sondern bei der Konstruktion von Bildungsplänen, vor allem im Elementarbereich, angemessen berücksichtigt und konstruktiv einbezogen. So beispielsweise in Neuseeland, wo in der Entwicklung des Bildungsplans »Te Wh?riki« die Maori-Tradition und die kulturelle Tradition der Pakeha, die Einwanderer westlicher Herkunft, gleichwertige kulturelle Traditionen darstellen (vgl. hierzu auch Derman-Sparks, 1992; Preissing/Wagner, 2002).

Ein Bildungsplan, in dem Diversität reflektiert wird, ist natürlich auch sensitiv für Aspekte des Geschlechts, des Alters und physischer Merkmale. In der Zwischenzeit ist der Schwerpunkt der »cultural diversity« weltweit einer der zentralen Aspekte in der Konstruktion neuerer Bildungspläne geworden.

Auch geschlechtsspezifische Erfahrungen in der frühen Kindheit finden international zunehmend Beachtung (Mac-Naughton, 2004). Damit verbunden ist das Anliegen, Geschlechtergerechtigkeit innerhalb elementarpädagogischer Konzepte zu gewährleisten. Bis Mitte der 80er Jahre wurde in zahlreichen Forschungsarbeiten aus Ländern wie den USA, Großbritannien und Australien detailliert dargestellt, dass junge Kinder in Einrichtungen des Elementarbereichs geschlechtsstereotyp spielen, denken und reagieren. Auch in den 90er Jahren bestätigten Forschungsprojekte immer wieder, dass sich junge Kinder häufig hochgradig geschlechtsstereotyp verhalten (MacNaughton 2000; Alloway 1995). MacNaughton (2004) betont, dass das Wissen über die Entwicklung geschlechtsstereotypischen Verhaltens in Einrichtungen des Elementarbereichs Anstoß zu Studien darüber gegeben hat, ob und wie Geschlechtergerechtigkeit in diesen Einrichtungen erreicht werden kann.

Bemühungen, behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam in Tageseinrichtungen zu erziehen, bilden ein weiteres Beispiel für die Wertschätzung von Diversität. Die Wahrnehmung von Unterschieden im Sinne einer Quelle der Bereicherung, führt zu einer neuen Qualität von Curricula. Auf die Individualität und die Eigenart des Kindes wird Wert gelegt und die Perspektive des Kindes übernommen.

Dies ist der Grund dafür, weshalb in den neueren Bildungsplänen dem Bild vom Kind besonderer Wert zugemessen wird. Aus postmodernistischer Perspektive kann es kein einheitliches Bild vom Kind und von Kindheit geben. Vielmehr werden unterschiedliche Bilder akzeptiert, die von den jeweiligen kulturellen und lokalen Gegebenheiten abhängig sind. Vor allem aber ist das Kind nicht bloß Objekt der Bildungsbemühungen anderer. Im Gegenteil, es wird nunmehr als Subjekt im Bildungsprozess behandelt, als kompetent handelndes Wesen, das seine Entwicklung, sein Lernen und seine Bildung ko-konstruiert.

Eine solche postmoderne Betrachtungsweise hat bereits Veränderungen in der Konstruktion von Bildungsplänen, wie zum Beispiel im Berliner Bildungsprogramm und in den Bildungsplänen von Hessen, Bayern und zum Teil auch Baden-Württembergs nach sich gezogen: Die Berücksichtigung der kindlichen Perspektive, die Autonomie des Kindes und seiner Rechte gewinnen an Beachtung. Diese Entwicklung wird auch durch die UN-Konvention über die Rechte des Kindes gefördert.

In fast allen neueren Bildungsplänen wird die eigenständige Position des Kindes betont, und es wird erwartet, dass kindliche Rechte dort auch thematisiert werden. Cathy Nutbrown (2004) argumentiert, dass Kinderrechte Kernelement eines Curriculums seien und als Kriterium herangezogen werden können, um Effektivität und Qualität der Lernprozesse zu evaluieren. Dieser Anspruch ist universeller Natur, da die Rechte von Kindern für alle Kinder gelten, unabhängig von Kultur, Religion, Geschlecht, nationaler oder ethnischer Herkunft oder anderen Besonderheiten. Nutbrown thematisiert einige Klauseln der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (United Nations 1989). Sie zeigt, dass diese Rechte in engem Zusammenhang mit dem Thema Bildung und Erziehung junger Kinder stehen. In vielen europäischen und außereuropäischen Ländern (zum Beispiel in Australien) erhielten Kinderrechte einen zentralen Stellenwert bei der Entwicklung von neuen Bildungsplänen im Elementarbereich.



Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/09 lesen.

 

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