In Kürze erscheinen Jürgen Zimmers Reportagen, Essays und Porträts aus 50 Jahren, vereint unter dem Titel »Das halb beherrschte Chaos«. Die Sammlung enthält Beiträge über Erlebnisse und Erfahrungen in der Heimat und in der weiten Welt. Sie belegt Jürgen Zimmers Lust, dem Museum Schule den Rücken zu kehren und sich dort einzumischen, wo Anreger und Querdenker gefragt sind und gebraucht werden. Das Interview führte Manuel Zimmer.



Welche Texte tauchen in deinem Buch auf?

Es gibt Geschichten über das, was mich neugierig gemacht hat. Und es gibt Texte, die ich früher in der ZEIT veröffentlicht habe. Anfang der 1960er Jahre hatte ich mich mächtig über den Muff in deutschen Jugendherbergen aufgeregt und bekam danach Waschkörbe voller positiver und negativer Leserbriefe zu meinem Beitrag. Außerdem hatte ich mich satirisch über die Gaudi-Burschen in deutschen Alpenvereinshütten geäußert. Daraufhin war ich eine Weile persona non grata in diesen Hütten. Das waren zwei der Themen, die sich im Vorfeld der Studentenbewegung ergeben hatten.

Den Muff der 1950er Jahre nahm ich gern aufs Korn. Dabei kam mir zugute, dass ich ein saumäßig schlechter Schüler in allen harten Fächern war, weil ich viele Schulwechsel hinter mir hatte. Da etliche Mitglieder meiner Familie in pädagogischen Gefilden arbeiteten, war es die Regel, mich möglichst nicht in eins der Internate zu schicken, in denen jemand von ihnen zugange war. Demzufolge hatte ich mal Altgriechisch, mal Latein, mal Naturwissenschaften und musste quasi von Eisscholle zu Eisscholle springen, um einigermaßen durchs Abitur zu kommen.
Oft habe ich mich am Schreiben festgehalten. Das war für mich so etwas wie die Bearbeitung von Unbill oder von chaotischen Situationen, in die ich in meinem Leben oft geriet. Da war die Feder meine Rettung. Immer wieder setzte ich mich hin und führte neben meinen Tätigkeiten als Wissenschaftler oder Entwickler alles Möglichen ein paralleles Schreib-Leben.

Am 2. Juni 1967 stand ich anlässlich des Schah-Besuchs vor der Deutschen Oper in Berlin. Mein Kollege Kai Hermann hatte das Glück oder Unglück, mit dem Schah in der Oper zu sitzen. Ich sah, wie viele Leute verprügelt wurden – und zwar brutal. In der ZEIT schrieb ich eine kühle Reportage über das, was ich erlebt und erfragt hatte. Sie war schon stilistisch ein Gegenstück zu den Beiträgen in der überschäumenden Berliner Boulevardpresse, in denen nur von den Chaoten die Rede war. Mein Artikel wurde als Sonderdruck oder Raubdruck in den studentischen Kreisen he-rumgereicht, aber mir wurde die ZEIT für die nächsten zehn Jahre zu bieder. Ich hatte keine Lust mehr, dort zu schreiben.

In den 1980er Jahren ging ich doch noch mal zur ZEIT, als Redakteur der Bildungsseite. Jeden Freitag fuhr ich – neben meinem Hochschullehrer-Job – nach Hamburg, machte den Umbruch und ärgerte mich, dass der Anzeigenspiegel von ganz unten nach ganz oben gerutscht war und dass ich Herrn von Friedeburg oder wen auch immer bitten musste, seinen Beitrag um zwei Drittel kürzen zu dürfen, was bei den libidinösen Bindungen, die manche Autoren zu ihren Halbsätzen hatten, nicht immer ganz einfach war.

Auf meiner Seite brachte ich Reportagen über gute und schlechte Pädagogik, über miserable oder gute Kultusminister, kurz: Es ging um die Veränderung des Bildungsauftrags, die auch der Deutsche Bildungsrat betrieb.

Damals beschäftigte ich mich auch mit internationalen Reformbewegungen, zum Beispiel mit den nachbarschaftsfreundlichen Schulen in England oder Australien. Der Ruf nach Community Schools wurde lauter, also nach Schulen, in denen Nachbarn mit ihren Abendveranstaltungen genauso anerkannt werden wie der tägliche Unterricht.

Einrichtungen, die eine Kombination aus Freizeitheim, Kulturzentrum, Schule, Jobvermittlungs-Börse und Community darstellen, wurden dann auch in der Bundesrepublik populär. Es gab Ansätze in Nordrhein-Westfalen oder in Städten wie Nürnberg. Eine Reform kam in Gang, die etwas mit der Entschulungsbewegung zu tun hatte, die Ivan Illich Anfang der 1970er Jahre mit seinem Buch »Deschooling Society – Entschulung der Gesellschaft« losgetreten hatte. Illich hatte vorgeschlagen: Weg mit den Schulen, die die soziale Ungleichheit zementieren, und hin zu Lernbörsen, an denen jeder Mensch das, was er kann, anbieten kann. Nach dem Motto: Ich bin Bienenzüchter, und wer Bienenzüchter werden will, der kommt zu mir. Wir können frei vereinbaren, zu welchen Bedingungen ich mit ihm arbeite.

Die Unterschiede zwischen meinen Vorstellungen von Pädagogik und den Vorstellungen einiger Kollegen in der ZEIT-Redaktion führten schließlich zu Spannungen. Aber der eigentliche Grund, warum ich die Redaktion verließ, war: Ich war dort so gefesselt, dass ich meine Neugierde auf die weite Welt nicht mehr befriedigen konnte.



Der besondere Buchtipp
 

Jürgen Zimmer
Das halb beherrschte Chaos
Reportagen, Essays und Portraits aus 50 Jahren
600 Seiten, mit farbigen Fotos
ISBN 978-3-86892-045-1

Euro 24,90

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Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/12 lesen.




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