Erkenntnisse der amerikanischen Entwicklungspsychologin Alison Gopnik und deren Bedeutung für die frühpädagogische PraxisDie Entwicklungspsychologin und Philosophin Alison Gopnik erforscht seit 20 Jahren, wie Kinder lernen. Sie interessiert sich für die Feinheiten des Lernens und fragt danach, wie Lernen im Detail funktioniert, wie Kinder – ganz konkret und in vielen Einzelfällen – die Welt begreifen und verstehen, wie sie Informationen sammeln und strukturieren.

Die pädagogischen Implikationen dessen, was Alison Gopnik herausfindet, sind nicht neu. Neu ist, dass durch ihre Forschungen die Intuitionen vieler großer Pädagogen der letzten Jahrhunderte und der Gegenwart erstmals empirisch überzeugend belegt werden können. Im Herbst 2012 berichtete Alison Gopnik in einem Beitrag für die bedeutende Wissenschaftszeitschrift »Science«1 über Erkenntnisse aus ihren Forschungen. Prof. Dr. Frauke Hildebrandt und Alexander Scheidt stellen einige dieser Erkenntnisse dar, weil sie für das tiefere Verständnis dessen, wie kleine Kinder lernen, bedeutungsvoll sind.


Wir Erwachsene haben hoch strukturierte, oft zutreffende und abstrakte Vorstellungen von der Welt, die uns umgibt. Weil wir diese Vorstellungen ha-ben, können wir Vorhersagen treffen und Pläne schmieden, wie wir die Welt verändern könnten. Wir gewinnen diese Vorstellungen allerdings aus einer eher chaotischen, fragmentarischen, konkreten Sinneswahrnehmung. Wie kann es sein, dass wir zutreffende abstrakte Vorstellungen von der Welt entwickeln, obwohl wir nur unsere Sinne haben, die uns auch noch häufig täuschen? Und: Wie lernen junge Kinder das?

In der Vergangenheit gab es auf diese Frage keine wirklich überzeugenden Antworten: Empiristische Lerntheorien gingen davon aus, dass wir als Lernende vor allem assoziativ verfahren würden, und interpretierten Lernen als kom-plexe Verknüpfung von Sinnesreizen. Sie postulierten, dass Kinder keine ab-strakten und kohärenten Vorstellungen von der Welt haben, sondern eher Sammlungen spezifischer Assoziationen zwischen einzelnen Inputs.

Ähnliches besagen auch Theorien des klassischen Konditionierens (der Pawlowsche Hund), und des operanten Konditionierens (Reizverstärkung, Skinners behavioristische Lerntheorien). Nativistische Theorien, also Theorien, die davon ausgehen, dass das Wissen der Kinder bereits abstrakt, strukturiert und kohärent ist, verneinen wiederum, dass zutreffende Vorstellungen tatsächlich gelernt sein könnten, und gehen davon aus, dass sie angeboren seien.



Rationaler Konstruktivismus

Alison Gopnik macht in ihrem Science-Beitrag deutlich, dass sich diese bislang dominierenden Lerntheorien von einer Lerntheorie, die ihrer aktuellen empirischen Forschung entspringt, stark unterscheiden: Nach Gopniks Theorie wird Lernen als Prozess des Hypothesen-Testens verstanden, für den die konstruktive Tätigkeit von Wissenschaftlern als Modell besser geeignet ist.2

Auch Jean Piaget sprach von einer konstruktivistischen Lerntheorie, aber was genau darunter zu verstehen ist, wie Lernen im Detail auf konstruktivistische Weise funktioniert, blieb bei ihm unbestimmt. Zudem erwiesen sich viele seiner empirischen Forschungsergebnisse in den letzten 20 Jahren als falsch. Kindergartenkinder sind eben nicht irrational, unlogisch, »prä-kausal« und auf das Hier und Jetzt beschränkt, wie Piaget dachte. Im Gegenteil: Junge Kinder und schon Babys haben intuitive, abstrakte, strukturierte und kausale Vorstellungen von der Welt, die sie umgibt und die sie nutzen, um weitreichende Vorhersagen zu treffen.3

Ein Konstruktivismus, der als überzeugende Theorie auftreten will, sollte, so Gopnik, daher theoretisch neu gedacht und empirisch neu belegt werden – er muss rekonstruiert werden.4 Das ist Gopniks Programm. Sie bezeichnet diesen Konstruktivismus unter Berufung auf Xu, Dewar und Perfors5 als rationalen Konstruktivismus, der erklären soll, wie Lernen im Detail so funktioniert, dass aus einzelnen Sinnesdaten komplexe, abstrakte und kohärente Theorien entstehen.

Um den Konstruktivismus rekonstruieren zu können, bezieht sich Gopnik auf mathematische Lernmodelle. In ihre entwicklungspsychologische und philosophische Forschung integriert sie probabilistische Erkenntnistheorie und statistische – Bayessche6 – Lerntheorien. In den letzten zehn Jahre wurden diese theoretischen Ansätze anhand vieler empirischer Studien getestet. Diese Studien lieferten starke Hinweise, dass Kinder tatsächlich ebenso lernen, wie der induktive Wissenschaftsprozess funktioniert. Die Grundidee ist, dass nicht assoziativ gelernt wird und Wissen nicht angeboren ist, sondern dass unsere Alltagstheorien von der Welt ebenso zustande kommen wie Theorien in der Wissenschaft, die revidiert oder bestätigt werden – und zwar am laufenden Band.



Drei Formen des Lernens

Nach Alison Gopniks rationalem Konstruktivismus lernen Kinder auf dreierlei Weise7:


Lernen durch Analyse statistischer Daten

Um den Kreis der prinzipiell möglichen Hypothesen einzugrenzen, nutzen schon sehr kleine Kinder statistische Informationen. Sie sind dafür sensibel und können statistisch schlussfolgern – natürlich ohne sich der Methoden, die sie dabei verwenden, in irgendeiner Weise bewusst zu sein.8 Viele Forschungsergebnisse belegen das. So wissen wir unter anderem, dass schon Fünfjährige statistische Abhängigkeiten nutzen, um auf komplexere kausale Strukturen zu schließen. Fünfjährige sahen in einem experimentellen Setting9 eine einfache Maschine mit einem Schalter auf einer Seite und zwei CDs, die auf der Maschine lagen. Die Maschine konnte auf verschiedene Weise in Gang gebracht werden: Der Schalter konnte die blaue CD in Betrieb setzen, die ihrerseits die gelbe CD starten ließ, oder beide CDs in Betrieb setzen. Die Kinder nutzten die beobachteten Daten korrekt, um zwischen Causal-Chain-Strukturen und Common Cause-Strukturen zu unterscheiden. Das heißt, sie konnten verschiedene kausale Zusammenhänge aus Häufigkeitsverteilungen erschließen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Kinder statistische Abhängigkeiten erkennen können und nutzen, um kausale Hypothesen über Dinge und Menschen zu interpretieren.


1    Gopnik, A.: Scientific Thinking in Young Children: Theoretical Advances, Empirical Research, and Policy Implications. In: Science. Vol. 337, 28. 9. 2012, S. 1623-1627
2    Vgl. Gopnik, A.: Scientific Thinking in Young Children: Theoretical Advances, Empirical Research, and Policy Implications. In: Science. Vol. 337, 28. 9. 2012, S. 1623
3    Vgl. Gopnik, A.: Scientific Thinking in Young Children: Theoretical Advances, Empirical Research, and Policy Implications. In: Science. Vol. 337, 28. 9. 2012, S. 1623
4    Gopnik, A./Wellman H. M.: Reconstructing constructivism: Causal models, Bayesian learning mechanisms and the theory theory. In: Psycological Bulletin 2013, S. 3
5    Xu, F./Dewar, K./ Perfors, A.: Induction, overhypotheses, and the shape bias: Some arguments and evidence for rational constructivism. In: Hood, B. M./Santos, L. (Ed.): The origins of object knowledge. University Press, Oxford UK 2009, S. 263-284
6    Thomas Bayes ist ein Mathematiker, der im 18. Jahrhundert Gesetze zum rationalen Umgang mit Wahrscheinlichkeiten postulierte und bewies. Seine Erkenntnisse finden vor allem in der Informatik und der Forschung zur künstlichen Intelligenz Anwendung.
7    Vgl. Gopnik, A.: Scientific Thinking in Young Children: Theoretical Advances, Empirical Research, and Policy Implications. In: Science. Vol. 337, 28. 9. 2012, S. 1625-1626
8    Bei den meisten Erwachsenen ist das nicht anders.
9    Schulz, L./Gopnik, A./Glymour, C.: Preschool children learn about causal structure from conditional interventions. Developmental Science 10/2007 (3), S. 322-332



Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/13 lesen.



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