Rita Haberkorn erörtert die Einschränkungen, denen Kindheit heutzutage unterworfen ist, und wie Kindergärten und Schulen dem begegnen können.

Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Kinder gespielt, aber Raum und Zeit dazu wandelten sich im Laufe der Geschichte. Bis ins späte 19. Jahrhundert verbrachten Kinder viel von der Zeit, die wir heute Kindheit nennen, als Arbeitskräfte in Fabriken, Bergwerken und der Heimindustrie.

Für Kinder ab drei Jahren ist der Kindergarten zum selbstverständlichen, zuverlässigen zweiten Lebensraum geworden. Für das öffentliche Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot gilt ein Rechtsanspruch und wenn es gelingt, werden die Erfahrungen des Kindes in den kleiner gewordenen Familien ergänzt und die Bildungs- und Entwicklungsprozesse in einer Partnerschaft von Profis und Eltern gemeinsam begleitet.

Der Kindergarten – ein genormter Lebensraum?
Stadtkindergärten können wie Einrichtungen auf dem Land groß oder klein sein. Vielleicht ist der Außenbereich großzügiger angelegt in einer Umgebung, die weniger dicht besiedelt ist, vielleicht erreicht man dort den Wald schneller. Gleichwohl hindern stark befahrene Straßen die Kinder daran, sich das Umfeld selbst gefahrlos zu erschließen, wie in der Stadt so auf dem Land.

Was unterscheidet Kindergärten im Allgäu, in Flensburg, im Rheingau, oder Dresden voneinander? Innenräume von Kindergärten geben Auskunft über die konzeptionellen Vorstellungen des Teams, etwa darüber, was Bewegungs-, Ruhe- und Lernbereiche den Kindern ermöglichen sollen. Sie sagen etwas darüber aus, wie in der Kindergesellschaft das Bedürfnis nach Rückzug, dem Leben in kleinen Gruppen und der großen Gemeinschaft gelebt werden kann. Bewährte Firmen zeigen Beispiele für die Möblierung des Lebensraums und damit ihr Konzept »umbauter Pädagogik«, einschließlich der ständig wachsenden Zahl von Sicherheits- und Gesundheitskriterien.

Doch gibt es neben konzeptionellen auch regionale Besonderheiten? Spiegelt das Innenleben des Kindergartens das Draußenleben wieder? Bleibt in dem pädagogisch durchdachten Lebensraum Platz für Überraschungen, Unvorhergesehenes, Anlässe zum Staunen?

Kinderwelten sind von Erwachsenen definierte Inselwelten
Kinder treffen ihre Spielkameraden kaum noch in der unmittelbaren Nachbarschaft. Die am Auto orientierte Stadtplanung hat den Kindern die Chance verbaut, sich das eigene Umfeld zu erschließen. Aber das gilt auch außerhalb von Städten. Der Turn – oder Fußballverein, die frühpädagogische Musikschule, das Ballettangebot für Kleinkinder oder auch der Spielplatz sind ohne Transport durch die Eltern für Kindergartenkinder nicht zu erreichen. Die Angebote finden in betreuten, geschlossenen und in der Regel überdachten Räumen statt. Sie sind wie Inseln, auf denen Kinder zielgerichtet eine begrenzte Zeit verbringen. Lebensumwelten, die noch nicht von Erwachsenen definiert sind, gibt es kaum noch. Sogar die Zeit mit engen Freundinnen oder Freunden in den eigenen Kinder-Zimmern bleibt in Hör- und Rufweite der Erwachsenen – also unter beständiger Aufsicht.
Verabredungen per Telefon managen bereits sehr junge Kinder gerne selbst und wenn man sie lässt oder unterstützt, entwickeln sie früh Fähigkeiten, Nischen für verbliebene Freiräume selbst zu organisieren. Der Kindergarten bleibt ein Lebensmittelpunkt auf Zeit, in der sich Freundschaften bilden und Kinder ihre Welt – soweit es die Erzieherinnen zulassen und fördern – mitgestalten können.

Türen öffnen und Brücken bauen
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf« und meint ein Aufwachsen in der Verantwortung einer Gemeinschaft, die über die biologische Familie hinausreicht. Zum Aufwachsen und zum Spaß brauchen Kinder ihres gleichen – altersnahe und altersfernere Kontakte, Freundschaften und Spielkameraden. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen freundlich zugewandt und mit Achtung begegnen – auch ohne einen pädagogischen Auftrag zu haben.

Der Kindergarten hat sich über lange Zeit als Insel der pädagogisch aufbereiteten Kinderwelt verstanden und sich von der gefahrvollen Außenwelt abgeschottet. Er versteht sich heute als Ort, in dem neue Beziehungen geknüpft werden können und wo Eltern untereinander einen Raum zum Austausch finden. Der Kindergarten ist für die Eltern heutzutage der Marktplatz in dem Dorf, das Kinder zu ihrem Aufwachsen benötigen. Auch das ist das Verdienst von Jürgen Zimmer, der wie kein zweiter die Kindergartenreform der letzten 40 Jahre in Deutschland prägte. Er wies schon früh auf den Widerspruch hin, Kinder auf Inseln bzw. in abgesonderten Häusern auf das Leben vorbereiten zu wollen. Konsequent forderte er: »Reißt die Mauern ein, lasst das Leben rein!«

Das Leben in die Kindertageseinrichtung herein zu lassen, kann bedeuten, spezielle Sport- und Musikangebote, die sonst nur einige Eltern privat organisieren würden, im Kindergarten ohne zusätzliche Kosten für alle Kinder gleichermaßen anzubieten. Es kann bedeuten, sich zu öffnen für Menschen, Ereignisse und Situationen, die für Kinder und ihre Familien – in ihrem Umfeld – relevant sind. Und es bedeutet, dass Erzieherinnen mit Kindern real erfahrbare Gelegenheiten außerhalb des Kindergartens herausfinden, in denen die Kinder zu Wort kommen. Wie zum Beispiel, als Kinder und Erwachsene eines Kindergartens in Rheinland-Pfalz als Sachverständige für die Gestaltung eines nahe gelegenen Spielplatzes eingeladen wurden und das Konzept für die Umgestaltung erarbeiteten. Kinder erfahren auf diese Weise, dass ihre Ideen und Erfahrungen ernst genommen werden, und dass sie ihre soziale Wirklichkeit mitgestalten können.

Mit der Überwindung des Inseldaseins öffnen sich die Kindergärten für vielfältige Kontakte zu direkten Nachbarn und zum gesamten Gemeinwesen. Darüber kann es gelingen, dem Kindergarten einen lokal und regional geprägten, ganz eigenen Charakter zu geben – er wird zu einem Ort, der im Sinne des afrikanischen Sprichwortes auch für die Dorfgemeinschaft wichtig und interessant ist.


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