Selbst-/Bildungsprozesse von Kindern beobachten und verstehen
Im freien Spiel entwickeln Kinder ihre Schemata. Dafür nutzen sie sich wiederholende Handlungen, die bestimmten Mustern folgen. Sabine Hebenstreit-Müller beschreibt, wie das Erkennen von Schemata uns helfen kann, elementare Bildungsprozesse besser zu verstehen.
Bei einem Familientreffen fängt die Mutter nach dem Abendbrot an aufzuräumen (gebrauchtes Geschirr vom Tisch nehmen etc.). Der dreijährige Niko1 nimmt von einem Stapel einzelne Sitzkissen und legt sie nebeneinander auf die Bank. Dann trägt er ein Kissen nach draußen auf die Terrasse und legt es dort auf einen freien Stuhl. Das wiederholt er mehrmals und nimmt dabei immer mehr Kissen auf einmal, bis er den ganzen restlichen Stapel rausträgt. Dabei schaut er sehr konzentriert. Wenn er angesprochen wird, sieht er zwar kurz auf, unterbricht aber nicht seine Tätigkeit. Als fast alle der ca. 20 Kissen verteilt sind, entdeckt er noch zwei, die auf den Terrassenboden gefallen sind. Er ruft mit zur Seite gestreckten Armen »Oh nein!« und hebt die letzten Kissen auf. Auf der Terrasse spricht ihn jemand an: »Hallo, Niko«. Er sieht die Person an und hält eines der Kissen mit fragendem Blick hoch. Als derjenige nicht in sein Spiel einsteigt, sucht Niko selbst nach freien Stühlen. Während er die Kissen auf die Stühle legt, sagt er: »Sieht schön aus«, und schaut zufrieden um sich.
Bei dieser Beobachtung fällt auf: Was den Erwachsenen als merkwürdig erscheinen mag, ist für den Jungen augenscheinlich eine wichtige Tätigkeit, die er mit großem Engagement und ohne sich davon abhalten zu lassen verfolgt. In seinem Tun können wir eine Reihe Schemata entdecken – zuallererst das Schema »Transportieren«. Erkennbar werden aber auch weitere Schemata: das »Sortieren« von Kissen nebeneinander und ihr »Verteilen« und »Platzieren« auf Stühlen. Deutlich wird zudem die emotionale Qualität, die diese Tätigkeit für das Kind hat. Kinder bilden sich durch eigenes, mit Leidenschaft verfolgtes Tun.
Bildung durch Schema-Play2
Kinder lernen durch eigenes Tun: durch sich wiederholende Handlungen, die bestimmen Mustern folgen. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget nennt solche immer wiederkehrenden Verhaltensmuster Schemata und versteht darunter Grundbausteine menschlichen Wissens. Linien, Verbinden, Verhüllen und Einhüllen, Rotation, Schichten, Sortieren, Transportieren oder Zudecken können solche Schemata sein, mit deren Hilfe Kinder ihre kognitiven Strukturen aufbauen und sich ein Bild von der Welt machen.3 Die Liste möglicher Schemata von Kindern ist lang.4
Beim Schema-Play machen die Kinder grundlegende Erfahrungen darüber, wie die Welt funktioniert. Am Beispiel des Schemas »Transportieren« lässt sich das gut konkretisieren:
- Sensomotorisch: Kinder machen sensomotorische Erfahrungen beim Transportieren von Gegenständen, indem sie Taschen füllen und diese von einem Platz zum anderen tragen oder kleine Autos hin und her schieben.
- Symbolisch: Gegenstände können für etwas anderes stehen, Bausteine für Autos oder Pakete, die ausgeliefert werden.
- Ursache und Wirkung: Experimente mit verschiedenen Spielzeugen, neuen Kombinationen. Beispielsweise werden Bausteine, verstanden als Pakete, aufeinandergetürmt. So können die Kinder testen, wie viel sie transportieren können, ohne dass alles herunterfällt.
- Abstrakt-operational: Kinder können das, was sie tun, anderen erklären und ihre Gedanken in Sprache fassen.5
Entscheidend für die Entwicklung von Schemata und der entsprechenden Fähigkeiten sind Wiederholung und Übung. Im freien Spiel erkunden die Kinder immer wieder Gelegenheiten, ihre Schemata anzuwenden, und benötigen dafür ihre ganz eigene Zeit. Neue Erfahrungen werden in vorhandene Schemata integriert und diese erweitert.
Schemata, Cluster und Konzepte
Schemata repräsentieren zunächst einfaches Tun und Denken. Jedes Schema (z.B. Saugen oder Greifen) hat die Tendenz zur Wiederholung. Mit der Entwicklung und den zunehmenden Erfahrungen des Kindes werden weitere Schemata entwickelt. »Die Clusterbildung führt das Denken der Kinder zu größeren und komplexeren Ideen, zum Beispiel zum Nachdenken über Zeichen als Repräsentationen von Dingen.«6 Dafür brauchen Kinder viele Gelegenheiten, ihre Schemata in unterschiedlichen Situationen und Kontexten auszuprobieren. Teig mit dem Mixer rühren, sich um die eigene Achse drehen, kreisende Handbewegungen: All das sind Erfahrungen, die das Schema »Rotation« anreichern und zur Clusterbildung beitragen. Aus dem Vergleich verschieden langer oder hoher Gegenstände, dem Gebrauch der eigenen Hand, um Abstände zu messen, dem Legen unterschiedlicher Mengen von Steinen können wiederum Konzepte von Maß und Zahl entstehen, mit denen das Kind in unterschiedlichen Kontexten operieren kann.
Die Forscherin der Frühen Kindheit Cath Arnold beschreibt, wie ihr Enkelsohn Harry Reihen verschiedener Fahrzeuge verlängert, durch Anhänger, Fahrzeuge miteinander verbindet.7 Er setzt sich damit auseinander, wer nacheinander Geburtstag hat, vergleicht aufgewickeltes und entwirrtes Garn oder die Höhe und Länge aufgestellter Stifte. Die Schemata »Linien« und »Verbinden« werden in diesem Beispiel übertragen auf mathematisch-naturwissenschaftliche Denkprozesse des Vergleichens und Analysierens.
Prof. Dr. Sabine Hebenstreit-Müller ist Diplompädagogin und Lehrerin, Sozialwissenschaftlerin und Honorarprofessorin an der Universität Halle-Wittenberg. Derzeit arbeitet sie als Organisationsberaterin, Evaluatorin und Weiterbildnerin.
Kontakt
1 Name geändert
2 Da die deutsche Übersetzung »Schema-Spiel« anders konnotiert werden kann, verwende ich den englischen und von Blatchford u.a. formulierten Begriff »Schema-Play«.
3 Piaget J. (1995): Intelligenz und Aktivität in der Entwicklung des Kindes. Frankfurt a.M.
4 Vgl. Edelmann, K. (2008): Schemas. Frühkindliche Verhaltensmuster als Ausgangspunkt sozialpädagogischen Handelns, Norderstedt; sowie Saumweber K. (2014): Schemas im Early Excellence Ansatz, Berlin
5 Bruce T. (2005): Early Childhood Education. London, S. 72-74
6 Meade A.; Cubey P. (2008): Thinking Children. Learning about Schemas. Maidenhead, S. 135. Übersetzt von S. Hebenstreit-Müller
7 Arnold C. (2003): Observing Harry. Child Development and Learning 0-5. Maidenhead
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2020 lesen.